Mahnender Mühlstein, 16.12.2010

Von Pfarrer Achim Zerrer

Dass sexueller Missbrauch ein verbreitetes Phänomen ist, wusste ich.

Als Seelsorger wird mir das immer wieder erzählt…

Dass es auch in den Reihen der Kirche vorkommt: 1-2 x mitbekommen.

Dass es so oft vorkommt, war mir nicht klar.

Den richtigen Schlag in den Magen hat mir aber erst die Erkenntnis verpasst, dass die Opfer allein gelassen wurden.

Die Täter waren wichtiger als die Opfer.

Die Kirche als Institution stand häufig auf der falschen Seite, der der Täter,

nicht der Opfer. Der eigentliche Skandal, die Sünde der Kirche.

2010: sehr schmerzhaftes Erwachen auch für die Opfer war es schmerzhaft, sich zu melden, die Dinge wieder aufzurühren und zu benennen.

Aber erst das, der doppelte Schmerz hat Umkehr ermöglicht.

Ich traue dieser Umkehr. Die Kirche in ihren verschiedenen Ebenen meint es ernst.

Sie stellt die Interessen der Opfer nun an erste Stelle.

Neue, verschärfte Richtlinien (DBK, Freiburg) als Fortbildung integriert in die Ausbildungsgänge aller kirchlichen Berufe, incl. der Schulung der Ehrenamtlichen.

Das Modell der Jugendarbeit von 2007 macht Schule:

Selbstverpflichtungserklärung, die öffentlich gemacht wird, ist wirksam.

Dennoch: Kulturwandel / Änderungen im Bewusstsein brauchen Zeit.

Wir müssen erinnert werden, darauf gestoßen werden.

Darum ist es gut, dass der Mahnende Mühlstein vor der Stephanskirche liegt.

Er muss hier liegen, auch wenn es beschämend ist.

„Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, wenn ihm Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“

Ursprünglich nicht auf Kinder oder Jugendliche gemünzt.

„Kleine“ : im Alltag übersehene, ganz normale Menschen die keine Macht haben,

die sich nicht wehren können, wenn sie an die Seite gedrängt werden, die nicht für sich selbst sprechen können.

: Eine Bibelstelle, bezogen auf den Umgang innerhalb der christlichen Gemeinde, wo jeder gleich viel wert ist.

: Eindeutige Warnung und Richtungsanzeige des Matthausevangeliums, überraschend, dass es passt.

Sexueller Missbrauch im Rahmen der Kirche ist Machtmissbrauch.

Vor wenigen Wochen wurde eine erste Auswertung der Fälle in der Erzdiözese Freiburg vorgelegt:

110 Fälle seit 1950 – die meisten Jahrzehnte zurückliegend,

keine Kinder unter 8 Jahren betroffen,

hauptsächlich 12 – 17 jährige Opfer,

pädophile Täter verschwindend gering.

→ Schlussfolgerung: bei sex. Missbrauch in der Kirche geht es um

Macht / Machtmissbrauch.

Rollenmissbrauch von Verantwortungsträgern.

Das scheint mir plausibel, hier sehe ich auch Wege zur Heilung.

Wir kommen her aus einer Zeit, in der die Dinge und Hierarchien in der Kirche sehr klar verteilt waren. Es gab viel Macht bei einzelnen Personen (womöglich noch göttlich legitimiert) und wenig Kontrolle und Transparenz.

Da stecken wir mitten im Wandel.

Die Macht der Pfarrer wird abnehmen, je größer die Seelsorgeeinheiten werden.

Die Verantwortung wird auf viel mehr Schultern verteilt,

nicht als Lückenbüßer, „weil die armen Pfarrer es allein nicht hinkriegen“

sondern weil das Kirche ist:

dass Menschen sich anrühren lassen von Gott und sich engagieren.

Offenheit und Transparenz sind Wege, die sich Gott sei Dank auch in der Kirche nicht mehr verhindern lassen.

Das wird auch helfen im Bereich sexueller Missbrauch, zusammen mit den konkreten Maßnahmen.

Dass es aber erst das Leid der Opfer brauchte, an das dieser Stein erinnert, um das wirklich zu lernen, das bleibt beschämend.