Mahnender Mühlstein, 5. Oktober 2010

Sie heißen Lana, Anniina, Megan, Sofia, Rosa und Bjarke und sind  zwischen 1 Monat und 9 Jahre alt. Sie wohnen in Ettlingen, London und München. Sie sind ganz einfach Wunderkinder. Lana, Anniina, Megan, Sofia, Rosa und Bjarke sind nämlich meine Enkelkinder.

Herzlich willkommen in der ESK heiße ich jetzt

         Herrn Regierungspräsidenten Dr. Rudolf Kühner,

         die Erste Bürgermeisterin Karlsruhes, Frau Margret Mergen,

         Herrn Philipp Ziser aus Burundi und

         den Initiator des Mahnenden Mühlsteins, Herrn Johannes Heibel aus   Siershahn

         und ein herzliches Willkommen auch an alle Schüler, Mitarbeiter, Eltern        und Gäste.

Willkommen heiße ich auch jeden Morgen vor unserem Haupteingang unsere ganze Schulgemeinschaft. Diese Tradition pflege ich nun seit 25 Jahren, als Schulleiter für 4 verschiedene Schulen in 4 verschiedenen Ländern. Willkommen Eltern und Mitarbeiter. Aber zuerst willkommen an jede Lana, Anniina, Sofia, Megan, Rosa und Bjarke.

Wir haben an der ESK Schüler aus allen Altersstufen. Gerade gestern haben wir in der ESK die Polyglott KITA eröffnet, das bedeutet, wir haben jetzt in der Schule Kinder vom Neugeborenenalter bis zum Abitur. Die Kinder haben mehr als 50 verschiedene nationale Hintergründe. Und jedes Kind hat seinen eigenen individuellen Hintergrund, seine Möglichkeiten und Gefahren.

Es ist ein Privileg, willkommen sagen zu dürfen. Lustig ist, dass jeder Schüler individuell und jeden Tag nahezu in der gleichen Sekunde ankommt. Viele kommen sehr früh, andere jeden Morgen exakt die gleichen 45 Sekunden zu spät. Ich stelle mir vor, wie gerade dieses Kind in Strasbourg, Heidelberg oder in der Waldstadt aufgestanden ist, die gleiche Morgenprozedur durchgemacht hat und jetzt gerade wieder 7.59 Uhr ankommt, und ein anderer gerade 8.06.

Viele Schüler nehmen mich kaum wahr, weil sie noch ein wenig schläfrig ankommen, oder weil ich als ein Teil des Inventars erlebt werde.

Mit anderen spiele ich kleine Rituale durch. Ein ungarischer Junge hat mir drei Jahre lang jeden Morgen seine Hand entgegengestreckt und „Guten Morgen Herr Hoyem“ gesagt. Bis letztes Jahr habe ich jeden Morgen zwei vietnamesische Mädchen umarmt. Jetzt sind sie plötzlich zu groß geworden. Aber meine kleine chinesische Jennifer Keri Yong-Ler findet es mit ihren 4 Jahren noch lustig, sich hinter meinem Rücken zu verstecken und ich zeige mich jeden Morgen total überrascht und hebe sie hoch in meine Arme.

Dann wieder kommt ein kleines Mädchen und es ist nicht zu übersehen, dass heute ihr Geburtstag ist. Ich sage dann ganz bewusst: „du bist also heute 7 Jahre alt“ und dann kommt die empörte Antwort: „nein ich bin jetzt 8“. Mit vielen kleinen Gesprächen, Mitteilungen, Überraschungen und Geschenken beginnt mein Tag, wenn Schüler sich mir anvertrauen und ihre kleinen Schätze zeigen. Bonjour, good morning, guten Morgen.

Doch es ist ein Privilegium die Schüler willkommen zu heißen.

Aber es ist auch ein Privilegium überhaupt in eine Schule zu gehen. Das ist leider absolut keine weltweite Selbstverständlichkeit. Analphabetismus habe ich in der ganzen Welt erlebt. Kinder, die in Armut, in der Kinderarbeit , im Hunger leben oder sterben. Philipp Ziser will uns später gerade über so eine Situation berichten. Und gerade letzte Woche haben sich die UN-Mitgliedstaaten getroffen um über die Milleniumsziele zu sprechen. Wie weit sind wir gekommen?

Noch sterben jedes Jahr 4 Millionen Kinder unter 5 Jahren weltweit.

Aber auch hier in unserer Bildungsstadt Karlsruhe finden wir sowohl Analphabetismus, als auch Kinderarmut. Karlsruhe ist dieses Jahr UNICEF Stadt. Nicht nur um Geld zu sammeln- das ist auch wichtig, aber wir sind UNICEF Stadt, weil wir den Fokus verstärkt auf Kinder und Jugendliche richten möchten; nicht nur in der Welt, sondern auch hier in Karlsruhe, ja sogar auch hier in der Europäischen Schule.

Deshalb haben wir einen Stolperstein bestellt.

Bewusst provozierend wurde er direkt am Haupteingang platziert. Aber ehrlich gesagt: ein Mühlstein,- ist das nicht zu übertrieben? Nein, absolut nicht. Es ist ein Teil meiner Arbeit, auch mit schwierigen Familiensituationen konfrontiert zu werden. Und ich kann Ihnen sagen, dass sogar ich, mit einem langen Leben in internationaler Bildung, noch schockiert werden kann, wenn ich in tragische Familiesituationen, weit schlimmer als unsere Phantasie reicht, Einblick bekomme.

Dieser Mühlstein ist nicht zu groß, weil wir in der ganzen Welt überhaupt kein wichtigeres Thema haben, als Kindern und Jugendlichen eine lebenswürdige Zukunft zu geben. Ein Mühlstein sagt nicht: „Bitte“ oder „Entschuldigung“. Ein Mühlstein sagt: „Schaut nicht weg“. Aber dann diese provozierende Inschrift: Zitat: „Wer aber einem von diesen kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“ Ist das nicht zuviel? Ist es nicht sogar eine Aufforderung zur Lynchjustiz?

Nein, denn diese Worte kommen von Jesus, dessen Botschaft „Liebe“ und „Vergebung“ war. Diese Aktion hat ein Ziel, das nicht auf christliche Gemeinden begrenzt ist und diese Rede ist keine theologische Bibelerklärung. Aber es gibt einen tiefen Grund, zu erklären in welchem Zusammenhang diese Worte stehen. Wir kennen den ersten Teil dieses Satzes, weil die meisten von uns getauft sind oder eine Taufe erlebt haben. Die Jünger Jesu wollen kleine Kinder von ihm fernhalten. Aber das hat er nicht akzeptiert, denn gerade die Kinder sollen in Zentrum stehen. „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Himmelreich“. Der Mühlstein mahnt uns gerade, unsere Kinder zu lieben, ihnen zu helfen und zu unterstützen und nicht wegzuschauen.

Zugegeben das ist nicht höflich oder diplomatisch. Aber politische und soziale Erklärungen und schöne ferne Milleniumsziele haben wir genug. Diese Aufgabe ist nicht für andere. Diese Aufgabe ist ganz unabhängig von Religion, Geschlecht oder Beruf. Diese Verantwortung, vor Kindermissbrauch in dessen tragischen und bösen Formen nicht wegzuschauen, ist eine Herausforderung für die Europäische Schule Karlsruhe, für Karlsruhe, für jeden Politiker, für jeden Journalist, für jede Mutter und jeden Vater, für jeden Erwachsenen, für mich - und Entschuldigung, dass ich mich jetzt in der Aula umsehe - gerade für Sie.

Ich habe ausgerechnet, dass ich in meiner Zeit als Schulleiter für ungefähr 35.000 Schüler verantwortlich gewesen bin. In jedem Schüler sehe ich Lana, Anniina, Megan, Sofia, Rosa und Bjarke.

Deshalb provozieren wir. Nicht höflich, nicht diplomatisch. Aber groß und deutlich. Wie ein Mühlstein.

Tom Høyem

Direktor Europäische Schule Karlsruhe